Der Leser möge sich selbst durch die Lektüre seine Meinung bilden.

Inna Hartwich, Auslandskorrespondentin in Moskau, am 25.05.2022, 05.30 Uhr

Der Bischof in Putins Diensten: Patriarch Kirill war für den russischen Geheimdienst tätig. Und predigt Hass im Namen des Friedens

Russlands Angriff gegen die Ukraine sieht er als Kampf des Guten gegen das Böse. Der Westen ist für ihn ein dekadenter Sündenpfuhl: Auf Kirill, den Patriarchen von Moskau, kann Putin sich verlassen.

«Russland hat noch nie jemanden angegriffen und beabsichtigt auch nicht, gegen jemanden zu kämpfen»: Patriarch Kirill bei einem Gottesdienst in der Kathedrale der Auferstehung Christi, der Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte in Kubinka bei Moskau.

Als Patriarch Kirill während eines Gottesdienstes vor einigen Tagen durch die Erzengel-Michael-Kathedrale im Moskauer Kreml schritt, hielt er das prunkvolle Kreuz vor sich in der Hand. Sein Kukol, die weisse, halbkugelförmige Kopfbedeckung, bewegte sich nicht. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche sprach nicht laut, nicht leise, aber eindringlich, schaute auf die Gläubigen und sagte: «Russland hat noch nie jemanden angegriffen und beabsichtigt auch nicht, gegen jemanden zu kämpfen.»

So klingt, was der höchste russisch-orthodoxe Geistliche zum Krieg in der Ukraine zu sagen hat. Es sind Worte eines Mannes, über den die Europäische Union womöglich Sanktionen verhängen wird – wie sie es bereits zuvor bei vielen russischen Politikern, Unternehmern und Propagandisten gemacht hat.

Kirills Worte klingen hart, ja absurd, überraschend sind sie nicht. Seit Jahren predigt der 75-Jährige Hass auf den Westen und verlangt von den Gläubigen Loyalität gegenüber dem russischen Staat. Den Angriff Russlands auf die Ukraine sieht der Kirchenmann als einen metaphysischen Kampf des Guten gegen das Böse, wobei Russland nach seinem Verständnis gut ist und der Westen böse. Am Frieden sei in der Ukraine niemand interessiert, sagt er in seinen Predigten immer wieder. Seine Aussagen begründen muss er, der sich von einem «christlichen Gewissen» geleitet sieht, vor der Ikonostase, der Trennwand zum Altarraum, nicht.

Ein Volk, ein Geist, ein Glauben Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar seinen Marschbefehl zum Überfall der Ukraine gegeben hatte und die Invasion des Nachbarlandes als «militärische Spezialoperation» betitelte, war von Kirill tagelang nichts zu hören. Erst Anfang März erhob sich dieser zum «Gebet für die Ukraine». In der grössten Kirche des Landes, der Erlöserkathedrale in Moskau, die Stalin einst hatte sprengen lassen und die unter Putin ihren Wiederaufbau feierte, sprach er – ähnlich wie der politische Führer des Landes – der Ukraine ihr Existenzrecht ab.

Die Ukrainer seien Russen, sagte Kirill. Feinde von aussen seien es, die – aus Angst vor einem starken russischen Volk – einem Teil dieses Volkes einredeten, es sei ihre Pflicht, ihre eigenen Brüder zu töten. Der Teufel verbreite Lügen, um das russische Volk, den russischen Glauben zu zerstören. «Russland, Weissrussland, die Ukraine sind ein Volk, leben in einem Geist, pflegen einen Glauben», sagte er und verwies immer wieder auf die «Feinde von aussen», die diese Einheit aller Russen bedrohten.

Zu diesen Feinden gehören laut Kirill alle, die gegen eine Einheit der aus den drei Ländern entstandenen «Kiewer Rus» sind, die 988 aus dem «Kiewer Taufbecken» entstiegen ist. Damals liess sich Grossfürst Wladimir nach byzantinischem Ritus taufen. Das Datum bezeichnet den Beginn der Christianisierung im Vorläuferreich Russlands. Aus ihm sind längst eigenständige Staaten entstanden, was Kirill allerdings negiert. So, wie das auch Präsident Putin, Russlands weltlicher Geschichtsverklärer, tut.

An Putins Seite Der Kirchenmann steht seit langem an der Seite Putins. Die beiden verbindet eine Vergangenheit beim sowjetischen Geheimdienst «Komitee für Staatssicherheit» (KGB). Noch mehr verbindet sie eine gemeinsame Vorstellung vom heutigen Russland. Sie sehen das Land als Gegensatz zu dem in ihren Augen verkommenen, dekadenten Westen. Zusammen prägen sie das Bild eines konservativen Landes mit den ihm eigenen, ja einzigartigen – traditionellen und konservativen – Werten. Bei so viel Einheit von Kirche und Staatsführung stört es die beiden wenig, dass Russland gemäss Verfassung ein säkularer Staat ist.

Kirill heisst mit bürgerlichem Namen Wladimir Gundjajew und entstammt einer Priesterfamilie aus Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Seine Mutter war Deutschlehrerin. Sein Vater wie auch der Grossvater predigten in der Kirche – zu Zeiten, als die Kommunisten Geistliche erschiessen und Kirchen verfallen liessen oder bestenfalls in Lagerhallen oder Bibliotheken umgestalteten.

Kirills Vorfahren verbrachten Jahre im Gulag. Er und sein älterer Bruder Nikolai waren dennoch ins Priesterseminar von Leningrad eingetreten. Zu Sowjetzeiten wurde auch die Kirche «sowjetisiert». «Rote Patriarchen» und «rote Metropoliten» trugen die Ideen des Sozialismus nach innen wie nach aussen weiter.

Der Patriarch und der Präsident österlich vereint: Kirill und Putin am 15. April 2017 in der Ostermesse, Moskau.

Im Einsatz des KGB Offenbar noch als Archimandrit (eine ähnliche Position wie die des Abtes in der katholischen Kirche) liess sich Kirill in den 1970er Jahren vom KGB anwerben und wurde zum Mitarbeiter «Michailow». Öffentlich bestätigt hat Kirill seine Geheimdiensttätigkeit nie, in den Archiven aber fanden Aktivisten bereits vor Jahren gut dokumentiertes Material dazu.

Als Rektor des Priesterseminars in Leningrad soll er sich 1979 gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan ausgesprochen haben. Als eine der wenigen prominenten Stimmen im Land, wie er selbst einst sagte. Die russische Invasion in der Ukraine heisst der Geistliche allerdings gut und fordert seine Gläubigen sogar explizit dazu auf, sich hinter ihren Präsidenten zu stellen.
Lange Zeit war Kirill als eine Art «Aussenminister» der russisch-orthodoxen Kirche aktiv und verbrachte viele Jahre im Ausland. So predigte er gleich nach seiner Priesterweihe vier Jahre lang in der russisch-orthodoxen Gemeinde in Genf. Am 1. Februar 2009, nach dem Tod des Patriarchen Alexi, wählte ihn der Heilige Synod in Peredelkino bei Moskau zum 16. Patriarchen von Moskau und der gesamten Rus.

Ein Mann des Systems Hundert Millionen Gläubige hören auf sein Wort, auch in der Ukraine, wo sich viele Geistliche bereits lange vor dem Krieg von der Kirche in Moskau distanzierten. Mehr als 200 ukrainische Priester des Moskauer Patriarchats fordern nun eine Absetzung ihres Oberhauptes.

Der russische Staat weiss den Einfluss des Oberpredigers gut zu nutzen. Mittlerweile ist die Allianz zwischen dem Kreml und der orthodoxen Kirche so eng, wie sie zuletzt im Zarenreich war. Die Kirche hilft, das Vakuum zu füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden war. Der Wandel vom Atheisten zum aufrichtig gläubigen Christen vollzog sich selbst bei den eifrigsten Kommunisten. Die Menschen wünschen sich Zuwendung, sie suchen Sicherheit. In der Kirche finden sie das, was sie in der neuen Welt der vielen Möglichkeiten vermissen. Und bekommen den Halt, der ihnen im Leben fehlt.

Drei Viertel aller Einwohner Russlands bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben und begreifen Religion als nationale Tradition. Alltagsreligiosität wird kaum gelebt, zu aktiven Kirchgängern zählen sich lediglich zehn Prozent aller Gläubigen im Land. Einige Priester in Russland haben sich allerdings nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von Kirill abgewandt. So mancher von ihnen hilft ukrainischen Flüchtlingen, wieder aus Russland herauszukommen, und kritisiert die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine. Kirill ist für sie ein «Mann des Systems», ein «Teil der russischen Regierung».

Leben im Luxus Den «Tabak-Patriarchen», wie das Kirchenoberhaupt von seinen Kritikern verächtlich genannt wird, weil er in den 1990er Jahren im Namen der Kirche mit Zigaretten und Öl gehandelt haben soll, stört das wenig. Er lebt im Luxus. Laut russischen Investigativjournalisten soll sich sein Vermögen auf 4 Milliarden Dollar belaufen. Zu seinen Besitztümern gehören unter anderem eine Penthousewohnung und eine Mercedes-Maybach-Luxuslimousine.

Kirill weiss die Politik auf seiner Seite. Und die Politik weiss, dass sie sich auf den Patriarchen verlassen kann. Die russische Orthodoxie ist längst zu einem der mächtigsten Pfeiler von Putins imperialer Neurussland-Ideologie geworden. Die Kirche schafft eine wirksame Bühne zur Stärkung und Inszenierung eines traditionsbewussten Nationalismus. Dass Kirill auf dieser Bühne die christlichen Gebote pervertiert, ist Nebensache.