(siehe auch FAZ vom 14.03.2022, Artikelauszug von Detlef Pollack, Religionssoziologe Universität Münster)

Die russische orthodoxe Kirche stellt sich gegen die Ukraine und auf die Seite Putins. Als Kirche steht sie also nicht auf der Seite der Schwachen und Verfolgten, sondern bietet Putin ideologisches Rüstzeug für seinen Krieg.

Wie kommt die Kirche zu dieser fatalen Rolle?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre verschwand sie nicht wie so manche andere Kirche in der Bedeutungslosigkeit. Das liegt im Wesentlichen daran, dass sie ihr kompromittierendes Bündnis mit den Machthabern zu keiner Zeit aufgab. Ihr Angebot einer religiös-ethnischen Identität wird von einer desinformierten und desorientierten Bevölkerung begierig aufgegriffen.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die orthodoxe Kirche jahrzehntelang grausam unterdrückt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die orthodoxe Kirche innerhalb kürzester Zeit zum Hoffnungsträger einer gedemütigten Nation. Ausgelöst durch den Verlust der Weltmachtstellung und verstärkt durch den wirtschaftlichen Niedergang Russlands in den Neunzigerjahren empfanden viele Russen den Zusammenbruch des Sowjetreiches als nationale Katastrophe. Anfang der Neunziger war der Nationalstolz in Russland äußerst gering. Aber von 1990 bis 2020 stieg die Zahl derjenigen, die sich mit der Orthodoxie identifizierten, von einem Drittel auf mehr als 2/3 der Bevölkerung. Die Zahl der Gottesgläubigen stieg von 44% auf 78%. Parallel dazu wuchs dank der orthodoxen Kirche auch der Nationalstolz.

Dieses religiös aufgeladene Nationalbewusstsein ist alles andere als harmlos. Mehr als 3/4 der Russen sind stolz auf ihre religiöse Identität, knapp 90% meinen, dass Russland eine Supermacht sein und ein Gegengewicht gegen den Einfluss des Westens bilden solle. Zugleich ist in Russland das Gefühl nationaler Demütigung verbreitet. Man sieht sich durch fremde Kulturen bedroht, mehr als 70% denken nach einer Umfrage, Russland habe viele Feinde. Für die Annexion der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine machten 3/4 der Russen die westlichen Länder, aber nur 2% Russland verantwortlich.
Das nationale Selbstbewusstsein zieht seine Kraft aus den großen Erfolgen in der Vergangenheit, aus der literarischen Tradition Russlands, aus den Leistungen bei der Erkundung des Weltalls sowie aus der vermeintlichen Geduld und Unerschütterlichkeit des russischen Volkes.

Die orthodoxe Kirche steht für diese einstige Größe Russlands. Das Nationalgefühl profitiert von der Kirche und die Kirche profitiert vom Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche erhält seit Jahren staatliche Gelder, sie wird finanziell wie rechtlich gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Der Patriarch Kirill I ist seit Jahren ein verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kremls. In seiner letzten Predigt bezeichnete er kürzlich die Feinde Russlands als „Kräfte des Bösen“. Russland ist das angegriffene Opfer westlicher Mächte. Der Kampf Russlands ist ein Kampf des Guten gegen das Böse.

Unter Kirchenmitgliedern lassen sich gegenwärtig auch gegenläufige Tendenzen beobachten. Hoffnung erweckt vor allem die junge Generation, in der sich eine beachtliche Offenheit für Demokratie und liberale Werte findet.